Edition Trudl Wohlfeil, Kirkel
Seit meiner frühesten Kindheit und Jugend, die ich im Hause meiner Großeltern und Eltern verbrachte, blieben die Kirchtürme von Kirkel ein vertrautes Bild, wo immer ich auch später lebte.
Da gab es einen barocken Zwiebelturm auf „unserer“ katholischen Kirche und einen nadelspitzen hochragenden, neogotischen auf der evangelischen Kirche. Beide läuteten ihre Glocken zu bestimmten Stunden. Die Turmuhr der evangelischen Kirche schlug jede Viertelstunde und dann die volle Stunde mit der ganzen Anzahl der Stunden.. Nach ihr konnte man sich richten. Die katholische Kirche hatte keine Turmuhr mit goldenen Ziffern und Zeigern. Schon von Weitem tauchte der neogotische hohe Turm der evangelischen Kirche auf; er schien sich mit der beachtlichen Höhe als Wahrzeichen Kirkels hervortun zu wollen, wenn man vom Schlossberg mit der Burgruine absieht.
Wer damals nicht wie heute in jedem Zimmer, am Handgelenk oder sonstwo seine Uhr in Sichtweite hatte, wusste, was es geschlagen hatte. Die vielen Glocken, die zum Gebet, zum Angelus, zum Gottesdienst, zur Feier hoher kirchlicher Festtage, zu einer Kindstaufe oder zu einer Beerdigung riefen, konnten die Eingeweihten an ihrem Klang erkennen. Hochzeitsglocken tönten anders als eine Sterbeglocke, die mit ihrem tiefen Klang verkündete, dass ein Mensch zum Sterben kam. Starb ein Kind, setzte zuerst die kleine Glocke ein, nach einer Pause verhallte das helle Geläut und die große Glocke kündete mit ein paar Schlägen das traurige Ende des Kindes an.
Wer weiss heute noch die Bedeutung der Betglocke, der Sturmglocke und der Feuerglocke? Wer kennt das Mittagsläuten, und was es mit dem Angelusläuten auf sich hat? Warum sprach Großmutter vom Angelus und nicht vom Engelsgeläut? Oft hörte ich sie einfach sagen: „es ‚laut’ schon“. Sie oder der Pfarrer hatten sich eifrig bemüht, uns zu erklären, warum die Abendglocke sagen wollte: „Der Engel des Herrn brachte Maria die Botschaft und sie empfing vom heiligen Geiste“. Das war der Angelus-Inhalt, den wir nie näher vom Sinn her betrachteten; er bedeutete Feierabend. Wir hörten auf die Glocke mit allen Folgen, die das, was die Kirche befahl, mit sich brachte. Der frühe morgendliche Glockenruf hieß, dass es Zeit zum Aufstehen war, um rechtzeitig in Feld, Wald und Wiese zu arbeiten, die Tiere zu versorgen, pünktlich zur Arbeit zu kommen oder auch in den Morgengottesdienst. Es gab sogar eine Schulglocke noch zu meiner Schulzeit in Kirkel.
Die Glocken läuteten bei allen Arten von Prozessionen, bei liturgischen Handlungen, sie gaben den Toten das letzte Geleit oder Geläut, sie riefen zu Andachten im Mai und im Rosenkranzmonat Oktober, sie verstummten am Karfreitag und „flogen nach Rom“, um am Ostersonntag feierlich die Auferstehung des Herrn einzuläuten. Erst nach dem Ostergottesdienst konnte das heissersehnte Eiersuchen beginnen.
Es gab Fronleichnams- und Bittprozessionen, die von Glockengeläut begleitet wurden. Auf Flurprozessionen zogen die Gläubigen beim Läuten über die Felder, um gemeinsam mit Pfarrer und Messdienern um Sonne und Regen für das Gedeihen der Feldfrüchte zu beten.
Vergessen ist vielleicht schon bald das Hochzeitsgeläut. Welches junge Paar meldet heute noch Hochzeitsglockengeläut auf der langen Wunschliste an? Wer nur noch im Standesamt getraut wird, hat vergessen, dass das schönste Hochzeitskleid ohne Glockenklang in der Kirche nicht recht zur Geltung kommt.
Was hat die Menschen bewogen, dass immer weniger Glockengeläut erwünscht wird? Warum sollen sie leiser werden oder ganz verstummen? Die Kirchenglocken sind zum Ärgernis geworden.
Hotelbesitzer müssen sich Klagen über den Lärm gefallen lassen, weil Gäste nicht schlafen können. Sie werden schon vom Klang einer Glocke genervt und geben vor, davon krank zu werden. Es sind nicht nur gestresste Manager, sondern vorwiegend Touristen, die eigentlich der Ruhe wegen in unser Dorf kommen. Wenn wir nur noch den digitalen Klang ertragen können, dürfen wir dies nicht den Glocken zuschreiben. Wir verteufeln die Glocken, dulden aber Riesentrucks auf unseren Landstraßen, wo früher Soldaten, Kriegsgeräte aller Art, Kutschen und Fuhrwerke, Pferdegetrappel und allerlei Lastkraft- und Personenewagen noch bewundert und bestaunt wurden. Auch dieser Lärm konnte und kann nicht abgestellt werden.
Schaffen wir mit den Glocken nicht eines Tages auch die Gesänge der Vögel, das Quaken der Frösche, das Miauen der Katzen und das Liebesgeflüster vieler Kleintiere aus unserer immer steriler werdenden Welt ab? Wer findet noch Freude am Hühnergegacker oder an einem krähenden Hahn in der Nacht? Ein Dorf ohne Federvieh kann noch so viele Attraktionen der neuesten Art auf die Beine stellen, ein dörfliches Ambiente ohne Glockengeläute wird zu einem langweiligen Touristentreff, vergleichbar einer städtischen Fußgängerzone. Du kennst eine, dann kennst Du alle. Lassen wir die Kirche im Dorf und lassen wir uns erst recht nicht von der Kirchenglocke aus der Ruhe bringen!
Welcher Schüler kennt heute noch das Lied von der Glocke, das früher Oma und Opa auswendig lernen mussten? Wieviele wissen heute noch, wer Schiller war? Ein Wirtschaftsminister vielleicht? Aber auch dieser ist schon Vor- und Frühgeschichte.
Wir wollen unsre Glocken wiederhaben und Großvater oder Großmutter fragen, was sie noch vom Glockengeläut der früheren Jahre zu erzählen wissen. Wir aber „brauchen“ Handy und Laptops, um uns die Reisezeit, das Einkaufen, das Kinderwagenschieben zu verkürzen. Sind deren Geklingel und musikalischer Störfaktor wirklich harmonischer und beruhigender als ein Zusammenklang von verschiedenen Glocken? Ein noch so gewaltig klingendes Glockengeläut könnte mich weniger aus der Fassung bringen als ein ICE Großraumwagen mit einem Digikonzert der verschiedensten neuen Handy-„ware“, die alle Woche ausgetauscht werden kann und auch noch Geld kostet.
Wir brauchen etwas, was bleibt, an dem wir uns noch orientieren können: Die Glocken. Wir brauchen die Glocken und die Lieder, um uns heimisch zu fühlen in unserer so schnelllebigen Zeit. Unsere Welt ist ein Dorf geworden. Mit ihr haben wir uns und aller Menschen Bräuche verändert.
Wie freut sich ein Wanderer auf griechischen Bergen, wenn er nach langem Marsch auf ein Kirchlein trifft, bei dem eine kleine Glocke an einem Baum festgebunden zum Läuten am Festtag des Heiligen, dem die Kirche gewidmet ist, einlädt. Dort kann er verweilen, dort steht die Tür offen, weil drinnen keine Schätze, ausser der einfachen Ikonostase, zu entwenden sind. Er zündet ein Lichtlein (φιτιλιδι) oder Kerzlein an. Das Olivenöl hat ein freundlicher Wanderer vor ihm gestiftet. Und er verweilt drinnen und draussen bei der Glocke, schaut in die Weite, ergriffen von der Stille, die selbst das Glöcklein nicht zerstören würde, wenn er es zum Klingen brächte. Es sei denn, er läutete Sturm. Die kleine Freude vergönnt er sich, wenn ihm die Einsamkeit danach gelüstet. Wir brauchen die Glocken. Sie zeigen uns, dass es auf Erden nie so still zugehen wird, einfach weil wir Menschen sind.
zu Ostern 2008
niedergeschrieben am 13. März 2008